Geschichte

„zum rühmlich bekannten gasthof neuwirt“

Der Neuwirt – unzählige Menschen in Wattens erinnern sich noch lebhaft daran. Rauschende Feste, beschwingte Bälle, Zusammenkünfte aller Art. Hier verbrachten sie unbeschwerte Stunden, mischten sich unter die Leute, lernten Lebensgefährten kennen. Klick dich durch über 100 Jahre Neuwirt-Geschichte.

1_bach_neuwirt_wattens — Wattens um die Jahrhundertwende: Der Wattenbach plätschert noch unverbaut dem Inn entgegen.

2_ortseinfahrt_neuwirt_wattens — Von Volders kommend, kommt man in diesen Tagen als erstes am Rinnerhaus vorbei (im Bild ganz rechts). Die äußersten Häuser des Dorfkerns liegen beiderseits der Bahnhofstraße. Der Rinner ist eines der wenigen Häuser in Wattens, das seine Kubatur bis heute im Wesentlichen bewahrt hat.

3_karte_neuwirt_wattens — Über Generationen hat sich an der Ausdehnung des kleinen Haufendorfes wenig geändert. Ein wenig Industrialisierung brachte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Papiermühle, die mit der Aufstellung einer Papiermaschine von der handwerklichen in die fabriksmäßige Produktion überging. Mehr als 250 Jahre lang schwankte die Bevölkerungszahl von Wattens beständig zwischen 700 und 800 Seelen. (Karte der zweiten Tiroler Landvermessung Anfang des 19. Jahrhunderts (Quelle: Land Tirol, Österreichisches Staatsarchiv)

4_berg_neuwirt_wattens — Durch die Mechanisierung der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert gerieten die Alpentäler ins Hintertreffen. Ihre Topographie verhinderte den großflächigen Einsatz von Maschinen. Doch nachdem in den 1850er Jahren Tirol an das internationale Eisenbahnnetz angeschlossen wurde und Strom aus Wasserkraft erzeugt werden konnte, die in den Bergen reichlich vorhanden war, kam der große industrielle Aufschwung. Am Ausgang des Wattentals errichtete Martin Kapferer, Besitzer der Papierfabrik, als einer der ersten in Tirol ein Elektrizitätswerk. (Quelle: Hubert Auer – Wattens: von der Agrargemeinde zum Arbeiterdorf, 1988)

5_brandtfabrik_neuwirt_wattens — In den 1870er Jahren errichtete Wilhelm Brandt im Oberdorf eine Baumwollspinnerei samt Turbine. Zur Textilproduktion kam es aber nie, das Gebäude wurde zum Dorftheater umfunktioniert. 1895 stoßen die Familien Swarovski und Weis auf die nun leer stehende Fabrik. Vor allem wegen der Turbine übersiedeln sie mit ihrer Glasschleiferei von Böhmen nach Wattens. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten nimmt der Betrieb bald Fahrt auf. Um 1912 wird er bereits 1000 Menschen beschäftigen. (Auer, 1988)

6_wohnungsnot_neuwirt_wattens — Zwischen 1900 und 1910 explodiert die Bevölkerungszahl. Sie steigt um 122 Prozent von 832 auf 1851 Personen. Wattens verzeichnet den größten relativen Bevölkerungsanstieg aller Tiroler Gemeinden. In diesen Jahren herrschen große Wohnungsnot und Wucherpreise, die Kosten für die Lebenserhaltung sind erdrückend. Trotz überdurchschnittlicher Löhne lebt die Arbeiterschaft am Existenzminimum. (Auer, 1988)

7_gasthaus_neuwirt_wattens — Die Arbeiterfamilien leben in kleinen, oft feuchten und überfüllten Wohnungen. Um den Mietzins bewältigen zu können, werden einzelne Betten untervermietet. Die Männer suchen Zerstreuung in den Gasthäusern. Auf Druck der Arbeiterschaft kommt es ab 1906 zur Errichtung erster Arbeiterwohnhäuser.

8_herrenzimmer_neuwirt_wattens — Um 1903 erhält der Neuwirt das „Herrenzimmer“. Der bekannte Kunstmaler Franz Mark sorgt für die Ausgestaltung. Von ihm stammt auch das Heilige Grab in der Laurentiuskirche.

9_dorfpartie_neuwirt_wattens — Autobesitzer können an einer Hand abgezählt werden. Vor den Häusern geht es vergleichsweise beschaulich zu. Doch die Straßen haben es in sich: Besonders für die immer zahlreicher werdenden RadfahrerInnen sind die zerfurchten Fahrbahnen eine Belastungsprobe.

10_prozession_neuwirt_wattens — Wenn sich die Prozessionen durch die Gassen schlängeln, muss vermutlich nicht viel Verkehr geregelt werden. Blick vom Neuwirt auf das gegenüberliegende Garberhaus (das später unter Denkmalschutz gestellt und nach dem Hochwasser 1965 abgerissen wird).

11_rinnwerk_neuwirt_wattens — Über Jahrhunderte ist der Wattenbach die Schlagader des Dorfes. Metallverarbeitende Betriebe siedeln sich an. Sie nutzen die Kraft des Wassers und produzieren Sensen, Äxte und Nägel. Im Bild hinten das Gasthaus samt Wirtschaftsgebäude, im Vordergrund das Rinnwerk der Schinaggl-Säge. Der Wattenbach wird hier aufgestaut, um Wasser für den Antrieb des Sägewerks abzuzweigen.

12_tennen_neuwirt_wattens — Die Mündung der Bahnhofstraße in die Bundesstraße um 1908. Wattens ist im wirtschaftlichen Aufschwung, es wird viel gebaut. Auch der Neuwirt expandiert: Im Hintergrund wird gerade das neue Wirtschaftsgebäude errichtet. Das ist nötig geworden, ...

13_plan_neuwirt_wattens — ... denn anstelle des alten Wirtschaftsgebäudes neben dem Gasthaus hat man Großes vor: „Der Neuwirt von Wattens baut einen Tanzsaal“, berichten die Innsbrucker Nachrichten am 27. August 1909.

14_abriss_neuwirt_wattens — Das alte Wirtschaftsgebäude wird abgerissen, das Herrenzimmer (rechts im Bild) darf stehen bleiben und wird behelfsmäßig eingedeckt. Auf ihm wird später eine Loggia errichtet.

15_saalbau_neuwirt_wattens — Die Bauarbeiten schreiten zügig voran. Schon im November 1909 ist der Saal fertig gestellt.

16_saal_neuwirt_wattens — „Sonntag, den 14. November findet die Eröffnung des neuen Saales beim Neuwirt in Wattens (Rudolf Steinacher) statt. Der Saal fasst 400 bis 500 Personen.“ (Brixener Chronik)

17_saal_neuwirt_wattens — Nur einen Tag später schon die nächste Veranstaltung: Lehrer Steinacher wird geehrt. „Die gutgeschulte Musikkapelle von Wattens spielte unermüdlich auf der Galerie des Saales. Zum Schlusse toastierte noch Herr Schulleiter Kühlwein aus Hall auf die drei Faktoren der Gemeinde: Pfarrer, Lehrer und Gemeindevorsteher, worauf noch Herr Lehrer Rangger von Zirl des vierten Faktors einer Gemeinde, nämlich ,einen guten Wirt‘ gedachte und schließlich auf den rührigen Gastwirt Rudolf Steinacher und seine Frau ein ,Hoch‘ ausbrachte.“ (Innsbrucker Nachrichten, 16. November 1909)

18_gasthaus_neuwirt_wattens — Wegen des Herrenzimmers wird der neue Saal nach hinten verrrückt. Dadurch kann zur Straße hin ein großer Gastgarten eingerichtet werden (einen deutlich kleineren gab es zuvor an der Ostseite des Gasthauses). Davor befindet sich der Blumen- und Gemüsegarten. Der Neuwirt entwickelt sich zu einem beliebten Ausflugsgasthaus. 1911 berichtet der Pustertaler Bote: „Am 4. Juli nachmittags veranstaltete der akademische Verein ,Vindelicia‘ in Hall einen Ausflug nach Schloß Friedberg, Volderer Bierkeller, Schloß Aschach durch herrliche Waldpartien und über wogende Maisfelder nach Wattens (großes Dorf mit 4 Fabriken) zum rühmlich bekannten Gasthof ,Neuwirt‘. Genannter Gasthof besitzt einen großen modern ausgestatteten Saal mit Gallerie und Theaterbühne.“

19_volkslieder-abend_neuwirt_wattens

20_boot_neuwirt_wattens — Um die Wasserkraft zu nutzen, wird der Wattenbach an mehreren Stellen aufgestaut. Auch zwischen Neuwirt und Schinaggl-Säge (links im Bild) befindet sich ein Wehr. Das Praktische wird mit dem Angenehmen verbunden und ein Boot zu Wasser gelassen. Man kann fast bis zur Oberen Fabrik zurückrudern.

21_orangerie_neuwirt_wattens — Der Saal scheint sehr gefragt zu sein. Nicht einmal drei Jahre nach seiner Errichtung wird erweitert: 1912 bekommt er an der Südseite einen Anbau: das Café, auch Orangerie genannt.

22_gastgarten_neuwirt_wattens — Für den Gastgarten bleibt trotzdem weiterhin Platz.

23_kostuemball_neuwirt_wattens

24_bach_neuwirt_wattens — Der Saal wird vielfältig genutzt: für Maskenbälle und Theatervorführungen, Wohltätigkeitsabende und Weihnachtsfeiern, Konzerte und Preiswatten, Festessen und Versammlungen (aber auch zur Versteigerungen von Liegenschaften). Ende September 1911 veranstaltet der Gemeinnützige Verein eine „Venezianische Nacht“. Die Innsbrucker Nachrichten schreiben darüber: „Gleich der Theatergesellschaft hat sich die Direktion der hiesigen k. k. Papier-Industrie AG. Olleschau in ebenso splendider als gelungener Weise des G. V. W. angenommen und anläßlich des Unterhaltungsabendes den Neuwirtsaal durch eine prachtvolle Dekoration und feenhafte Beleuchtung in ein Märchenreich verwandelt. Die Gartenufer-Illumination, sowie ein herrliches Feuerwerk, waren ein Geschenk des Fabrikanten D. Swarovsky. Es wäre noch die auf dem aufgestauten Wattenbach arrangierte ulkige Gondelfahrt, wozu der Neuwirt die Gondel ,Fortuna‘ beistellte, zu erwähnen, die gleichfalls zur Belustigung beitrug.“

25_plan_neuwirt_wattens — Im Frühjahr 1914 gibt es abermals Erweiterungspläne: Der Bühnenraum soll über den Wattenbach hinaus vergrößert werden. Vermutlich wegen des Kriegsausbruchs wenige Monate später wird das Vorhaben nicht mehr umgesetzt.

26_patschenbar_neuwirt_wattens — Das Juchee über dem Saal dient erst den Terrassenpflanzen als Winterquartier ...

27_patschenbar_neuwirt_wattens — ... und wird später bei den Bällen zur Bar umfunktioniert. Ganz rechts die Wirtin Gitti Steinacher.

28_gartenhaus_neuwirt_wattens — Anfang der 1920er Jahre wird im Südosteck des Gastgartens ein Gartenhäuschen errichtet. In dieser Zeit glauben nur wenige an das vom Habsburger-Reich verbliebene Deutschösterreich. Stimmung für den Anschluss an das Deutsche Reich wird auch in Tirol gemacht: „Gute Anschlußstimmung am Lande. Wattens. Sonntag, den 17. April, findet um ½ 11 Uhr vormittags in Wattens im Gasthaus Neuwirt eine Anschlußversammlung statt.“ (Innsbrucker Nachrichten vom 16. April 1921)

29_dorfpartie_neuwirt_wattens — Es wächst und gedeiht rund ums Haus. Im großen Gastgarten spenden Bäume und Rankpflanzen Schatten und Kühlung.

30_dorf_neuwirt_wattens — Wattens im Jahr 1945. Von den 3.000 Menschen bezahlen 195 den Krieg mit ihrem Leben. Am 3. Mai 1945 wird Albert Troppmair nur wenige Meter vom Neuwirt entfernt in einem tragischen Missverständnis erschossen. Das Mitglied der Wattener Widerstandsbewegung will mit einem Helfer ein Maschinengewehr holen, um gegen im Dorf verbliebene SS-Männer anzugehen. Sie missachten die nächtliche Ausgangssperre, Troppmair wird von einer Salve einziehender Amerikaner tödlich getroffen.

31_plan_neuwirt_wattens — Nach den Amerikanern kommen die Franzosen. Die Besatzungsmacht bleibt bis 1955. Es wird wieder gefeiert, auch im Neuwirt. Ende 1951 bricht ein Feuer aus, der Dachstuhl wird ein Raub der Flammen. Kurz darauf stehen die Pläne für die Wiedererrichtung des nunmehr schlichteren Saaldaches.

32_eroeffnung_neuwirt_wattens — Im Dezember 1952 wird eröffnet.

33_saal_neuwirt_wattens

34_schank_neuwirt_wattens — Das Geschäft läuft wieder an. In den 1970er und 1980er Jahren wird der Neuwirt zu einem Fixpunkt in der Ballsaison. In guten Jahren arbeiten zehn und mehr Personen im Gasthaus. In der Mitte Rudolf Steinacher, rechts Anna Mühlegger.

35_trauerweide_neuwirt_wattens — Trotz des technischen Fortschritts kann sich vor dem Haus immer noch ein Stück ungebändigte Natur halten.

36_gasthaus_neuwirt_wattens — Doch im Frühsommer 1965 wird Wattens von einem schweren Hochwasser heimgesucht. Der Wattenbach wird daraufhin hin begradigt und verbaut. In der Festschrift zur Eröffnung der Regulierung spricht man von einer „vorteilhaften Flurbereinigung“. Um Platz für die Autos zu schaffen, ist wenige Jahre zuvor die Bundesstraße verbreitert worden. Auch ein Teil des Neuwirt-Gastgartens verschwand unter Asphalt. Das Foto zeigt das Gasthaus im Jahr 1971. Am Äußeren hat sich seitdem wenig geändert.